GOLF TIME 5/2021

COVER | BRITISH OPEN

besondere mit den langen Eisen, wo er die Tour-Statistiken überlegen anführt. Der lang- same Rückschwung ist dabei sein Marken- zeichen. Und Collin ist ein sehr überlegter Spieler. Jeder Schlag bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung. Und er ein Händchen dafür, sich mental auf die wichtigsten Herausforde- rungen akribisch vorzubereiten. „Wenn ich zu Turnieren komme, die ich noch nie zuvor gespielt habe, mache ich von Montag bis Mittwoch meine Hausarbeiten, um zu wissen, was ich an den Turniertagen zu tun habe“, erklärte Morikawa seine Heran- gehensweise. So entschloss sich der 24-jährige Kalifornier auch dazu, am Tag vor dem Start der Open seine Eisen 7, 8 und 9 zu wechseln, und er kehrte darüber hinaus zu einem kon- ventionelleren Puttergriff zurück, der ihm mehr Kraft bei den längeren Putts geben sollte. Es hat sich ausgezahlt, denn gerade am Final-Sonntag lochte er unter Druck alle wich- tigen Putts und durfte am Ende als Lohn der Arbeit die prestigeträchtige Sieger-Trophäe, den Claret Jug, freudig in Empfang nehmen. OOST, I DID IT AGAIN! Wir hatten schon nach den U.S. Open Louis Oosthuizen als „ewige Brautjungfer“ tituliert. In Royal St. George’s wurde der 38-jährige Südafrikaner leider erneut seinemRuf gerecht, einen Major-Sieg nicht über die Ziellinie brin- gen zu können. Mit einem Schlag Vorsprung am ersten Abschlag verfiel „Oostie“ schnell in eine Schlummer-Stimmung, die sein Spiel am Sonntag bei großen Meisterschaften nur allzu oft prägte. Der mit U.S. Open-Champion Jon Rahm geteilte dritte Platz war Oosthuizens zehnte Top-10-Platzierung – und seine neunte in den Top-3 – seit er vor 11 Jahren in St. Andrews seinen bislang einzigen Major-Sieg davontragen konnte. Es ist ein Rekord, der bei der über- wiegenden Mehrheit der Spieler sicherlich Stolz hervorrufen würde, selbst inmitten der unvermeidlichen Enttäuschungen. Aber An- fang der Woche gab es Anzeichen dafür, dass der Farmerjunge aus Mossel Bay in der Nähe von Kapstadt langsam müde wurde von dem „Warum haben Sie noch kein zweites Major gewonnen?"-Narrativ. Zwar behielt Louis seinen natürlich ruhigen Charme, aber bei genauerem Hinsehen gab es Zeichen von leichter Irritation. Es gab ein kleines Augen- rollen und ein oder zwei gef lüsterte Seufzer, bevor er auf Fragen antwortete. So kam es, dass Oosthuizen, nachdem er Collin Morikawa auf dem 18. Grün die Hand geschüttelt und die Karte unterschrieben hatte, einen hastigen Rückzug vom Royal St. George’s Golf Club wählte, ohne auch nur ein Wort öffentlich zu sagen. Es gab lediglich,

FRUSTRATION Auch in Royal St. George’s konnte Louis Oosthuizen den Sieg nicht nach Hause bringen

gute 90 Minuten später, eine kurze Nachricht auf Twitter, wo er sich bei den Fans für die Unterstützung bedankte und Sieger Collin Morikawa artig gratulierte. Dieser revanchierte sich mit freundlichen Worten und fasste gut zusammen, was sich wohl die ganze Golfwelt dachte: „Er wird weiter an diese Türen klop- fen und ich bin mir sicher, auch noch ein paar durchschlagen. Er ist einfach zu gut!“ MARCEL IM TRAUMLAND Eine der absoluten Feelgood-Storys der dies- jährigen Open ist jene von Marcel Siem. Der 41-jährige Deutsche qualifizierte sich erst in letzter Minute durch einen Sieg auf der Challenge Tour für das vierte und letzte Major des Jahres. Der Triumph bei der Le Vaudreuil Golf Challenge im Golf PGA France du Vaudreuil war ein richtungsweisender für den Routinier, der vor nicht allzu langer Zeit

sogar über ein Karriereende nachdachte. Mit seinem ersten Sieg seit dem BMW Masters 2014 vor knapp sieben Jahren sicherte sich Siem 33.600 Euro an Preisgeld und – noch viel wichtiger – eine beinahe sichere Karte für die nächste European-Tour-Saison. Es waren emotionale Szenen, die sich nach einem erfolgreichen Zwei-Putt auf der 18 in Frankreich abspielten. Und nachvollziehbar bei einem mit vier European-Tour-Siegen dekorierten Spieler, der vor einigen Jahren noch auf dem Sprung unter die besten 50 der Welt stand, dann aber den Schwung sowie die Tour-Karte verlor, ans Aufhören dachte und sich schließlich dazu durchrang, den steini- gen Weg zurück anzutreten. „Die letzten drei Jahre waren hart“, bilan- zierte der glückliche Sieger. „Mein Golf war immer da, ich habe nur nicht daran geglaubt. Ich habe einen neuen Mentaltrainer, ein komplett neues Team um mich herum und ein neues Management. Ich denke, sie haben einiges verändert. Vor eineinhalb Jahren, als wir anfingen, saß ich in Mauritius und habe überlegt, ob ich noch spielen wollte. Ich kam einfach nicht in Schwung, verlor auf dem Golfplatz ständig den Faden und war nicht geduldig genug. Ich bin so froh, dass ich jetzt auf dem richtigen Weg bin.“ Gleich nach dem Sieg nahm er seine Tochter in den Arm, die mit ihm während der Turnierwoche über die Fairways schlenderte. „Victoria ist großartig, sie ist die ganze Zeit so positiv und hat mir am ersten Tag gesagt, dass wir gewinnen werden. Ich bin so stolz, dass sie jetzt bei mir ist, und ich habe immer davon geträumt.”

WOLKE SIEBEN Marcel Siem begeisterte nach seinem Sieg in Frankreich auch die Fans in Südengland mit mutigem Spiel

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